Julija Timoschenko

Hoffnungsträger in Orange

Wie man in der Ukraine versuchte nach der Revolution 2004
einen eigenen Weg zu gehen und die warum dieser Versuch scheiterte

14.2.2007. Im Herbst 2004 fegte in der Ukraine eine friedliche Bürgerrevolution unter orangefarbigen Bannern das korrumpierte Regime des ehemaligen Industriemagnaten Leonid Kutschma hinfort, der die Pfründe seines Clans zum Schluß noch mittels Wahlbetruges sichern wollte.
Viele Demokraten, auch aus Deutschland, schauten mit Euphorie und auch mit ein bisschen Neid auf die Vorgänge in der Ukraine, denn auch unserem Land hätte eine derartige Frischzellenkur gut getan. Heute, über zwei Jahre nach der „Revolution“, ist das orangefarbige Lager gespalten, die Partei „Unsere Ukraine“ (NU) des neuen Präsidenten Viktor Juschtschenko regiert gemeinsam mit Kutschmas Spezi, dem damaligen Wahlfälscher Viktor Janukowitsch (Partei der Regionen). Julija Timoschenko, einst gefeierte Ikone der „Orangen Revolution“ hat mit ihrer Partei inzwischen auf den Oppositionsbänken platzgenommen. Doch gerade die frühere Premierministerin (Januar-September 2005) ist es, die noch für die Ideale von 2004 einsteht, während ihr Bündnispartner, der Präsident Juschtschenko, der die Ukraine nach Westen führen will, sich mittlerweile auf die gleichen Machtstrukturen wie einst Kutschma stützt.
Juschtschenko steht für einen liberal-kapitalistischen Staat nach us-amerikanischem Vorbild, während „Julija“, wie sie von ihren Anhängern bloß genannt wird, einen eigenen, ukrainischen Weg in Sachen Demokratie und Wirtschaft verfolgt.

Die heute 46-jährige, studierte Ökonomin wandelte sich von einer Oligarchin zu einer wahren Gerechtigkeitsfanatikerin. Nach dem Zerfall der Sowjetunion gelang es Frau Timoschenko in den wilden 90iger Jahren u.a. dank der Protektion des Schwiegervaters, eines einflussreichen KP-Funktionärs, mit ihrer Öl- und Erdgas-Firma „Vereinigte Energiesysteme der Ukraine“ (EESU) ein Vermögen von ca. 11 Mrd. US-Dollar zu scheffeln und so zur reichsten Frau des Landes aufzusteigen.
Diese neue Oberschicht der neureichen Oligarchen, die es auch in Russland gab, unterstützte zur Präsidentenwahl den parteilosen Leonid Kutschma, Direktor eines Rüstungskonzerns und selbst ein windiger Geschäftsmann. Seine Bauernschläue wurde in den folgenden 10 Jahren seiner Herrschaft legendär, er baute ein System von Pfründen, Clanwirtschaft, persönlichen Beziehungen usw. auf. Es war damals für Oligarchen und Wirtschaftsbosse üblich, sich als Abgeordnete in die Große Rada (ukrain. Parlament) wählen zu lassen, um für den Fall der Fälle Immunität vor Strafverfolgung zu erlangen, denn man konnte nie wissen, wann einen der Bannstrahl des Autokraten Kutschma traf. Auch Julija Timoschenko bewarb sich daher in einem Wahlkreis um ein Direktmandat. Mit ihrem Geld sorgte sie im Wahlkreis dafür, dass es weniger Stromausfälle gab und dass die Heizungen im Winter nicht wie bisher oft kalt blieben. Die Dankbarkeit, die ihr das einfache Volk auf dem Land für diese Unterstützung entgegenbrachte, war es wohl dann auch, welche die völlige Wandlung Timoschenkos einleiteten, von der schwerreichen „Gasprinzessin“ hin zur Revolutionärin. In ihrem Wahlkreis erhielt sie als Unabhängige auf Anhieb über 90% der Stimmen und schloß sich im Parlament der Partei „Gromada“ („Gemeinde“) des Professors und Baptistenpastors Oleksander Turtschinow an. Dieser überließ der wesentlich gewandteren Julija bald darauf das Feld, ist aber bis heute einer ihrer engsten Vertrauten. Auch schien Turtschinow z.T. dazu beigetragen zu haben, dass sich die Gasprinzessin Timoschenko zu einer Politikerin mit Verantwortungsgefühl mauserte. Als Kutschma 1996 aus taktischen Gründen eine „Reformregierung“ mit dem heutigen Präsidenten Juschtschenko als Premier berief, wurde Julija Timoschenko stellvertretende Regierungschefin und Energieministerin. Sehr bald kam sie in Konflikt mit den Oligarchen aus Kutschmas Umgebung, denn unter denen räumte sie gnadenlos auf. Steuerhinterziehung und die Privatisierung von Staatseigentum zu Schleuderpreisen bekämpfte sie rabiat und widersetzte sich allen Bestechungsversuchen. In der Umgebung des Präsidenten war man geschockt, welches Kuckucksei man sich da ins Nest gelegt hatte. Schließlich hatte sie sich früher der gleichen dubiosen Methoden wie alle anderen ukrainischen Wirtschaftsbosse bedient! Nach wenigen Monaten wurde Julija Timoschenko auf Druck des Präsidenten entlassen und unter fadenscheinigen Vorwürfen inhaftiert, ihr Konzern EESU zum Teil zerschlagen.

Ihrer wachsenden Popularität beim Volk begegnete Kutschma mit eine Kampagne, in der er ihre Vergangenheit als Oligarchin herausstellte und sie somit als „Raubritterin“ brandmarkte.
Dieses von ihm vermittelte Bild Timoschenkos ließ viele Ukrainer auf Distanz zu ihr gehen und prägt oft auch heute noch in Europa das Image Julijas. Doch die Inhaftierung machte Julija Timoschenko endgültig zu einer Märtyrerin für die Gegner des Kutschma-Regimes.
Nach ihrer Entlassung gründete sie gemeinsam mit Prof. Turtschinow die „Vaterlandspartei“, die sich mit drei weiteren Parteien zum Wahlbündnis „Block Julija Timoschenko“ (BJUT) zusammenschloß. Zwar sah sie im heutigen Präsidenten Viktor Juschtschenko und seiner Partei immer ihre „natürlichen“ Verbündeten, doch deren extrem prowestlicher Ausrichtung begegnete sie mit Skepsis.
Als sie nach der Orangenen Revolution Anfang 2005 Premierministerin wurde, handelte man sie noch westlich orientierte Liberale, da ihr Wahlbündnis Kontakte zur deutschen FDP-Bundestagsfraktion hatte. Während ihrer kurzen Amtszeit galt sie dann als „Sozialdemokratin“, als sie entlassen wurde, verglich man sie dann sogar mit dem argentinischen Ex-Präsidenten und Sozialpopulisten Juan Peron.

„Die traditionellen Weltideologien haben sich überlebt,“ sagt Julija Timoschenko. „In den so genannten zivilisierten Ländern hat sich der Mensch anscheinend ein sehr komfortables Leben geschaffen, in dem alles bis zur letzten Kleinigkeit geregelt ist. Warum aber gibt es dann dort so viele Psychotherapeuten und Psychiater? Offenbar steht es mit der seelischen Welt des Menschen nicht zum Besten. Er spürt ein gewisses Unbehagen. Ein grundsätzlich neues Gesellschaftsmodell scheint mir dringend notwendig.“

In ihrer nur achtmonatigen Regierungszeit arbeitet Julija Timoschenko oft Tag und Nacht. In ihrem Büro hat sie ein Feldbett aufgeschlagen. Sie lässt mobile Kommandos aufstellen um den Schmuggel und das organisierte Verbrechen zu bekämpfen. In dieser Zeit werden auch 19.262 Fälle von Wirtschaftsvergehen aufgedeckt. Julija fühlt sich ihren Wahlversprechen verpflichtet: die Gehälter der Staatsbediensteten und die Renten werden erhöht, um die Kaufkraft zu stärken, die Mindestrente wird auf das Existenzminimum angehoben, Zahlungen für junge Mütter erhöhen sich um das 12-fache.
Die neue Premierministerin glaubt an den starken Nationalstaat, der in der Lage ist, mit seinem Eigentum effizient umzugehen. Der Staat müsse auf dem Markt zum voll handlungsfähigen Akteur werden, der Geld für den Haushalt verdient, mit Privatkapital konkurriert und auf die Preise Einfluß nimmt.

Der Staat müsse sich zwischen Geschäftswelt und Gesellschaft stellen, um die Bevölkerung vor den Attacken des Kapitals zu schützen, fordert Julija Timoschenko. Um das Big Business müsse sich der Staat nicht sorgen, dass habe so scharfe Zähne, dass es seine Interessen auch alleine durchsetze, weiß sie, wohl auch aus eigener Erfahrung. In dieser Frage erweist sich die frühere ukrainische Regierungschefin der deutschen Regierungschefin als überlegen. Hierzulande hat Frau Merkel noch nicht erkannt, dass ihre Politik nicht der Bevölkerung, sondern nur einer kleinen Oberschicht und einem Heer verbeamteter Parteisoldaten zu Gute kommt. Für sie ist, im Gegensatz zu Julija Timoschenko, die Gerechtigkeit kein politisches Stichwort.

Die Sozialprogramme der Regierung Timoschenko sollten u.a. durch eine Reprivatisierung der ehemaligen Staatsbetriebe finanziert werden. In den 1990iger Jahren hatten sich zahlreiche „Geschäftsmänner“, die einen guten Draht zu Kutschma & Co. hatten, große Staatsbetriebe für ein Taschengeld unter dem Nagel gerissen. Diese Betriebe sollten wieder unter staatliche Hoheit gestellt werden, marktgerecht bewertet und zum fairen Preis neu verkauft werden, wobei es den Vorbesitzern möglich war, ihren Betrieb wieder zurückzukaufen – nur eben zum Marktpreis. Über 3.000 Betriebe waren davon betroffen. Die Oligarchen schrieen vor Wut und Schmerz, wandten sich an Jutschenko um Beistand. Der zaudernde Präsident erklärte schließlich, er befürworte die Neubewertung von 30 Unternehmen – eine rein symbolische Zahl. Für Julija Timoschenk völlig inakzeptabel: „Ich bin dagegen, dass man einzelne Unternehmer herausgreift und zur Ader lässt. Es kann nicht in einem geschlossenen Zirkel darüber entschieden werden, dass z.B. der Unternehmer A zur Kasse gebeten wird, während wir uns mit dem Unternehmer B gütlich einigen.“

Man stelle sich diese Politik in Deutschland vor: die Kanzlerin führt die durch die Treuhand-Mafia verkauften Betriebe in Staatsbesitz zurück. Zumindest die, die noch in irgend einer Form existieren, bewertet sie neu und verkauft sie zum realen Preis. Für die Betriebe, die bereits eingeebnet wurden oder als Ruinen verfallen, müsste ebenfalls anhand von Unterlagen der frühere und der jetzige Wert ermittelt und die Täter zur Verantwortung gezogen werden – schließlich handelte es sich um Volkseigentum der DDR! Man wird sich noch an das Gebaren nach der Wende erinnern: Betriebe mit vollen Auftragsbüchern wurden für 1 D-Mark verscherbelt, die Angestellten entlassen, die Maschinen herausgeschleppt und verkauft, die Gebäude verfielen – und das im Auftrag der westdeutschen Industrie, die durch ihre politischen Lobbyisten so viel Konkurrenz wie möglich ausgeschaltet wissen wollte.

Tatsächlich, unter den heutigen Verhältnissen in Deutschland ist ein derart radikales Streben nach Gerechtigkeit und Wahrheit zum Scheitern verurteilt. Und auch Julija Timoschenko in der Ukraine sollte bald das Handwerk gelegt werden. Äußerer Auslöser dazu war die sogenannte ukrainische „Ölkrise“:
Jedes Jahr vor der Ernte in der Ukraine erhöhten die Ölmagnaten des Kremls die Benzin- und Ölpreise willkürlich. Da man keine Missernte einfahren wollte, akzeptierte die ukrainische Regierung bisher immer die Preiserhöhungen. Doch diesmal wollte die kampflustige Premierministerin diesen Machenschaften einen Riegel vorschieben. Ihre Regierung legte eine Obergrenze für die Preise fest, bei deren Überschreiten den Unternehmen Sanktionen drohten. Daraufhin drosselten die russischen Ölmagnaten ihre Produktion, um Druck auf die Ukraine auszuüben.
Doch Julija Timoschenko ließ sich nicht erpressen. Sie gab die Gründung einer eigenen ukrainischen Ölraffinerie und den Ausbau eines staatlichen Tankstellennetzes bekannt, um die Abhängigkeit von Russland zu verringern. Gleichzeitig senkte sie die Steuern für Erdölprodukte und ließ die Importzölle darauf aufheben. Die Ukraine plante Erdöl in der ganzen Welt zusammenzukaufen. Die Aktion war gerade angelaufen, da wurde die Premierministerin von Präsident Viktor Juschtschenko entlassen, er warf ihr gar vor, „nicht marktgerecht“ reagiert zu haben. Der Präsident hatte sich inzwischen mit den russischen Ölhändlern getroffen und war eingeknickt, gleichzeitig wollte er wohl auch das Verhältnis zu Putin nicht weiter belasten. Julija Timoschenko wirft ihrem früheren Partner seitdem „Verrat an den Idealen der Orangenen Revolution“ vor und hat sich in die Opposition zurückgezogen. Bei den wenige Monate später stattfindenden Parlamentswahlen ließ ihr Wahlblock die Präsidentenpartei weit hinter sich und wurde zweitstärkste Fraktion.

Der ukrainische Präsident Juschtschenko galt schon immer als unentschlossen, er will es sich mit niemandem verderben. Deshalb opferte er seine Premierministerin, denn es war klar dass sowohl der Westen als auch Russland Druck auf den Präsidenten ausgeübt hatten, um die streitbare Frau Timoschenko loszuwerden. Putin wollte keine selbstbewusste Ukraine an seiner Grenze, das Großkapital wollte keine Regierung, die seine Aktivitäten behindert und der Westen wollte bitteschön eine zu 100% prowestliche Regierung.

Das vorrevolutionäre Herrschaftssystem in der Ukraine war durchaus mit der heutigen Situation in Deutschland vergleichbar. Es handelte sich nicht um eine offene Diktatur, sondern vielmehr um ein System der geistigen und materiellen Korrumpierung. Leonid Kutschma herrschte in der Ukraine mit einem Kartell aus ihm verbundenen Geschäftsleuten und Oligarchen, diese hatten oftmals ihre eigenen Parteien, die den Präsidenten in wechselnden Koalitionen und Bündnissen unterstützten und die Medien beherrschten. Zwar gibt es heute in Deutschland keine über dem System stehende Figur a´la Kutschma, aber das geflochtene Netzwerk zum Machterhalt der Systemprofiteure ist das gleiche. Im Gegenteil, durch das Fehlen einer dominanten Figur wie Kutschma fehlt dem BRD-System eine Person, auf die sich die Unzufriedenheit der Bürger fokussiert. Der Zorn der Bevölkerung verteilt sich auf mehrere Politiker und Parteien, dass System ist dadurch weitaus flexibler als das in der Ukraine.

Die Revolution in der Ukraine war notwendig, aber sie ist leider in den Anfängen stecken geblieben. Eine friedliche „Bürgerrevolution“ könnte auch in Deutschland vieles verändern. Die Zeit wäre reif. Doch wer sollten in Deutschland die „orangefarbenen“ Hoffnungsträger sein? Noch sind keine relevanten Kräfte in Sicht. Aber die Bildung einer neuen, aufrichtigen Demokratie-Bewegung ist dringend notwendig.





Kay Hanisch